Fachkräftemangel in der Industrie: Gibt es einen Ausweg?

Der Fachkräftemangel ist kein Zukunftsszenario mehr, sondern längst Realität. Was können Unternehmen dieser Entwicklung entgegensetzen? Andrea Alboni, General Manager Western Europe, beleuchtet den Status quo.

Fachkräftemangel in der Industrie | Universal Robots
Fachkräftemangel in der Industrie | Universal Robots

In Europa schlittern wir ungebremst auf eine Krise zu, die sich seit Jahren anbahnt. Die Überalterung der Gesellschaft ist eine der Hauptursachen für den bereits heute spürbaren Fachkräftemangel in der Wirtschaft. Besserung? Ist leider nicht in Sicht.

Zwischen 2025 und 2035 werden beispielsweise in Deutschland Millionen qualifizierter Arbeitskräfte in Rente gehen – die sogenannte Babyboomer-Generation. Laut einer aktuellen Arbeitsmarktstudie der Boston Consulting Group (BCG) dürfte das dazu führen, dass alleine in Deutschland bis 2030 etwa drei Millionen Vollzeitkräfte und eine Million ITler fehlen werden – Tendenz steigend. Um diese Herausforderung zu meistern, müssen wir zu folgenden Themenfeldern neue wirkungsvolle Strategien entwickeln:

Mit Innovationskraft dem Fachkräftemangel entgegenwirken

Innovationen sind eine zentrale Grundlage für den gesellschaftlichen Fortschritt und die internationale Wettbewerbsfähigkeit eines Landes. Aber wie innovationsfähig sind wir in der DACH-Region noch? Laut dem Global Innovation Index 2021 (GII) der UN-Weltorganisation für geistiges Eigentum (World Intellectual Property Organization, WIPO) liegen die Deutschen bei Patentanmeldungen weltweit vorne im Länderranking. Ein Beweis für Deutschland als Innovationsstandort. Dies ist jedoch nur eine Seite der Medaille.

Sidefact: Die Schweiz war 2021 laut GII Spitzenreiter unter den innovativsten Ländern der Welt. Deutschland belegte den 10. Platz, Österreich Platz 18. Zur Einordnung: Der GII bewertet die Leistung des Innovationsökosystems von insgesamt 132 Volkswirtschaften weltweit. Der Bericht stützt sich auf eine Reihe ausgewählter Indikatoren – unter anderem die Patentanmeldungen.

Die Coronakrise hat die deutsche Innovationskraft merklich geschwächt, wie jüngst im Handelsblatt zu lesen war. Demnach gingen in Deutschland die Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE) 2020 erstmals seit mehr als zehn Jahren zurück – um 3,6 Prozent auf 170 Milliarden Euro. In Europa hatte nur Italien einen größeren Rückgang zu verzeichnen.

Angesichts der aktuellen Herausforderungen sollte das ein Weckruf sein. Ich denke da vor allem an den deutschen Mittelstand. Denn deutliche Investitionen finden derzeit hauptsächlich in der Großindustrie statt. Die oft im ländlichen Raum ansässigen kleinen bis mittelgroßen Betriebe scheuen hingegen aktuell Investitionen in FuE oder finden kein geeignetes Personal für entsprechende Innovationsvorhaben. Hier gilt es meines Erachtens nach anzusetzen und Lösungen zu finden – je früher desto besser. Sonst nimmt das durch einen starken Mittelstand geprägte Wirtschafts- und Sozialmodell Deutschlands erheblichen Schaden.

Ausbau von Digitalisierung und Automatisierung

Industrie 4.0 spielt in diesem Kontext eine entscheidende Rolle. Durch den Einsatz digitaler Technologien und durch automatisierte Prozesse können kleinere und mittlere Unternehmen innovative Geschäftsmodelle entwickeln und ihre Wettbewerbsfähigkeit langfristig erhalten. Aber wie nutzen wir aktuell die Chancen der Digitalisierung und Automatisierung?

Es braucht Mut, um die digitale Transformation entschieden voranzutreiben

„COVID-19 hat uns nochmals zehn Jahre in die digitale Zukunft katapultiert“, konstatiert Rainer Strack, Senior Advisor und ehemaliger Managing Director bei der Boston Consulting Group, in der Podcast-Serie „Zukunftschancen“ des österreichischen Bundesministeriums für Arbeit.

Sidefact: Bekannt geworden ist Rainer Strack vor allem durch seinen TED-Talk 2014 über die Zukunft der Arbeitswelt. Ein Beitrag, der bis heute brandaktuell ist.

In seinem TED-Talk sprach Rainer Strack 2014 über den Arbeitskräftemangel, auf den die Volkswirtschaften weltweit zusteuern.

Doch der deutsche Mittelstand nutzt diesen Digitalisierungs-Booster noch nicht optimal. Mehr als die Hälfte der kleinen und mittelständischen Unternehmen sehen sich als digitale Nachzügler, wie eine repräsentative Umfrage belegt, die vom Digitalverband Bitkom in Auftrag gegeben wurde. Woran das liegt?

Einerseits, und da wären wir schon beim Kern des Problems, entwickelt sich der Fachkräftemangel zunehmend zur Fortschrittsbremse. Es fehlen gerade im ländlichen Mittelstand qualifizierte Mitarbeiter mit entsprechendem Know-how. Aber auch die mit der Pandemie einhergehenden Unsicherheiten spielen eine große Rolle. Wenn in Digitalisierung investiert wurde, dann vorwiegend in Geschäftsbereiche mit geringem wirtschaftlichen Risiko. Das könnte man pauschal als guten Anfang bezeichnen. Jedoch wurden größere Investitionsvorhaben von vielen Unternehmen aus Kostengründen gestoppt.

Hier braucht es ein Umdenken und mehr (finanziellen) Mut der Unternehmerinnen und Unternehmer. Nur mit einem ganzheitlichen und zukunftsgerichteten Ansatz („Big Picture“) kann die digitale Transformation entschieden vorangetrieben werden. Dass sich dieser Schritt lohnt, bestätigt Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer des IT-Branchenverbands Bitkom, im Handelsblatt: „Jedes zweite Unternehmen stellt fest, dass Wettbewerber, die frühzeitig auf Digitalisierung gesetzt haben, jetzt einen Wettbewerbsvorsprung haben, unter anderem durch digital erzeugte Produktivitätsfortschritte.“

Deutschland – Europas Vorreiter in Sachen Automatisierung

Die Digitalisierung von Produktionsprozessen begünstigt die fortschreitende Automatisierung. Deutschland nimmt hier als die am stärksten automatisierte Volkswirtschaft Europas eine Vorreiterrolle ein. Dies belegt der World Robotics 2021 Report, herausgegeben von der International Federation of Robotics (IFR). Als Kriterium ihrer Berechnungen nimmt die IFR die Roboterdichte des jeweiligen Landes als Maßstab, also die Anzahl von Industrierobotern pro 10.000 Mitarbeitern.

Sidefact: Laut IFR-Report hatte Deutschland 2020 eine Roboterdichte von 371 Einheiten und belegte damit weltweit Rang 4; Österreich mit 205 Einheiten Platz 14. Die Schweiz rangiert mit 181 Einheiten auf dem 18. Platz.

Diese Entwicklung gilt es voranzutreiben. Wie ich in meinem letzten Beitrag geschrieben habe, kann schon eine Teilautomatisierung den Effekt des demografischen Wandels abfedern und gleichzeitig zu mehr Wirtschaftlichkeit, Prozess- und Planungssicherheit führen. Ein weiterer Vorteil: Unternehmen haben die Möglichkeit, auch in Zukunft mit voller Auslastung am heimischen Standort zu produzieren und von der hier vorhandenen Expertise zu profitieren.

Antwort auf demografischen Wandel: Unternehmenskultur und Nachwuchsförderung stärken

Und nun zum letzten Punkt, der mich und so viele andere Akteure und Entscheidungsträger aus Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Gesellschaft nachhaltig beschäftigt: Wie reagieren wir auf den demografischen Wandel?

Ich erinnere mich an eine Headline aus dem letzten Jahr: „Wir brauchen 400.000 Zuwanderer pro Jahr“, zitierte die Süddeutsche Zeitung Detlef Scheele, den Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit (BA). Doch wie kürzlich in einer Pressemitteilung zu lesen war, haben 2021 nur knapp mehr als 3.200 ausländische Fachkräfte durch BA-Unterstützung erfolgreich ihre Arbeit in Deutschland aufgenommen.

Unternehmenskultur und Nachwuchsförderung sind entscheidende Faktoren, um Fachkräfte zu binden.
Unternehmenskultur und Nachwuchsförderung sind entscheidende Faktoren, um Fachkräfte zu binden.

Wenn nicht genug Fachkräfte zu uns kommen, muss das Motto lauten: Mitarbeiter binden statt finden! Und somit wären wir bei der Unternehmenskultur. Heute müssen Unternehmen mehr denn je ihre Personalpolitik überdenken und ihre Attraktivität als Arbeitgeber nachhaltig steigern. Millennials und Gen Z haben eine viel höhere Anspruchshaltung gegenüber ihrem zukünftigen Arbeitgeber, als es noch in früheren Generationen der Fall war. Das Gehalt ist nicht mehr der entscheidende Faktor. Vielmehr müssen sich Beruf und Privatleben bestmöglich miteinander vereinbaren lassen. Zugleich fordert die junge Generation Teilhabe, (digitalen) Fortschritt und zeitgemäße Unternehmenswerte ein, die sowohl nach außen wie nach innen gelebt werden.

Hierzu zählt das Thema Nachwuchsförderung als Teil des Employer Branding. Um sich als attraktiver Arbeitgeber zu präsentieren, sollten Unternehmen verstärkt in die eigene Ausbildungsqualität investieren. Denn nur wenn diese stimmt, bleibt die betriebliche Berufsausbildung weiterhin eine attraktive Option für junge Menschen.

Eine zusätzliche Möglichkeit sind Investitionen in die technische Ausrüstung  von Ausbildungsstätten – wie etwa Berufsschulen und Universitäten. Je besser die technischen Voraussetzungen dort sind, desto nachhaltiger werden die Auszubildenden und Studierenden auf ihr späteres Arbeitsleben in der Industrie vorbereitet. Wie toll das klappen kann, sehen wir etwa am Beispiel der Berufsbildenden Schulen II im ostfriesischen Emden. Dort hat eine Gruppe motivierter Lehrer mehrere unserer kollaborierenden Roboter (Cobots) in ihren Unterricht integriert. Mit Erfolg! „Die Schulungsstationen machen es mir und meinen Kollegen wirklich einfach, unseren Unterricht interessant und praxisbezogen zu gestalten“, erzählt Berufsschullehrer Christian Schmidchen. „Aber das Wichtigste ist: Die Schüler haben jedes Mal viel Spaß im Unterricht.“

Fachkräftemangel: Wir müssen aktiv werden – jetzt

Der Fachkräftemangel bereitet uns allen Sorgen. Menschen sind die wichtigste Ressource einer Volkswirtschaft. Aber die vielschichtigen Herausforderungen dürfen uns nicht lähmen. Wir müssen aktiv werden – jetzt.

Dafür braucht es eine klare Zielrichtung und ein entschlossenes Vorgehen aller Akteure und Entscheidungsträger – sei es aus der Wirtschaft, Politik oder den anderen Teilen unserer Gesellschaft. Wir müssen konsequent und mutig in die Entwicklung und den Ausbau neuer Technologien investieren, um unsere Innovationskraft zu stärken. Und wir müssen unseren Blick zunehmend auf die Basis richten. Nur wenn wir es in Zukunft schaffen, unser Bildungssystem konsequenter nach unserem Wirtschaftssystem auszurichten, werden wir genug qualifizierte Nachwuchskräfte haben, um dem Fachkräftemangel die Stirn zu bieten.

Andrea Alboni

Andrea Alboni ist General Manager Western Europe bei Universal Robots. Mit Leidenschaft und Know-how verantwortet er das Geschäft in den Ländern Deutschland, Österreich und Schweiz. Die hohe KMU-Dichte im DACH-Raum bietet eine Vielzahl an Anwendungsmöglichkeiten für die flexiblen, kostengünstigen Cobots. Andrea Alboni bringt seine über zehnjährige Sales-Expertise ein, um gemeinsam mit Universal Robots die Entwicklung und den Einsatz kollaborativer Robotik sowie das Wachstum am Markt weiter voranzutreiben.

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