Die Vision einer linienlosen, mobilen und autonomen Montage

Wie müssen Montagesysteme aussehen, damit wir an Hochlohnstandorten weiter rentabel produzieren können? Diese Fragestellung ist Kern der anwendungsnahen Forschung von Guido Hüttemann, Leiter des Center XL Assembly am RWTH Aachen Campus. Wie er die Entwicklung der Montage vorantreibt – darüber spricht er im Interview.

Automatisierung der Montage | Universal Robots
Automatisierung der Montage | Universal Robots

Wir schreiben das Jahr 1913. Der Grundstein für die Automatisierung der Montage wird gelegt – von niemand geringerem als Henry Ford. Mit der Weiterentwicklung der Fließbandfertigung zur mobilen Fertigungsstraße (engl.: moving assembly line) setzt der US-amerikanische Automobilpionier neue industrielle Maßstäbe. Der einsetzende Rationalisierungseffekt ist erheblich: Die Produktivität steigt, Montagezeit und Herstellungskosten sinken – und Autos werden in Folge für jedermann erschwinglich. Ein visionäres Konzept, das die Arbeitswelt, Gesellschaft und Geschichte des 20. Jahrhunderts maßgeblich prägen sollte.

Über 100 Jahre später gelangt die klassische Fließbandproduktion an ihre Grenzen. Fertigungsabläufe haben sich zum Teil stark verändert. Der Wandel hin zu hybriden und modularen Montagesysteme schreitet voran. Welche Auswirkungen hat dieser Wandel auf die Montagesysteme der Gegenwart und Zukunft?

An dieser Fragestellung forscht Dr. Guido Hüttemann, Geschäftsfeldleiter Future Assembly & Robotics am WZL der RWTH Aachen und Centerleiter und Geschäftsführer des Center XL Assembly am RWTH Aachen Campus. Seit letztem Jahr unterstützt Universal Robots den 36-Jährigen als Kooperationspartner des Center XL Assembly bei seiner Vision einer linienlosen, mobilen und autonomen Montage. Mit welchen Herausforderungen er sich in seiner Forschung konfrontiert sieht und was die Zusammenarbeit mit uns so wertvoll macht? Darüber und mehr spricht Herr Hüttemann im Interview.

Dr. Guido Hüttemann forscht an der RWTH Aachen an der Montage der Zukunft.
Dr. Guido Hüttemann forscht an der RWTH Aachen an der Montage der Zukunft.

Herr Dr. Hüttemann, woran denken Sie beim Namen Henry Ford?

Guido Hüttemann: (lacht) An meine Dissertation. Direkt auf der ersten Seite habe ich einen seiner bekanntesten Sätze zitiert: „Jeder Käufer kann seine Autofarbe frei wählen – vorausgesetzt, sie ist schwarz.”

Was sagt uns dieser Satz?

Hüttemann: Dass Herr Ford damals ziemlich genau verstanden hat, wie man ein Produkt rational fertigt. Vor 1913 gab es seinen berühmten Ford-T in vier verschiedenen Farben. Nach Umstellung der Produktion auf die „assembly line“ lediglich in schwarz. Warum? Ganz einfach. Nur schwarzer Lack trocknete schnell genug.

Die Fließbandarbeit ist auf hohe Stückzahlen mit geringer Varianz ausgerichtet. Ein für die damalige Zeit zeitgemäßes und revolutionäres Konzept. Es markierte den Beginn der modernen Massenproduktion. Aber der Markt hat sich in den letzten 100 Jahren stark verändert.

Hüttemann: Das ist richtig. Der zunehmende Wandel von einem Anbieter- hin zu einem Käufermarkt stellt die produzierenden Unternehmen vor große Herausforderungen.

Ein zentraler Treiber ist ein breiteres Produktspektrum mit einer Vielzahl an Varianten und kleineren Losgrößen. Zur Einordnung: Ein Hersteller von Industriepumpen etwa hat heutzutage problemlos eine dreistellige Millionenzahl an Produktvarianten im Portfolio. Hinzu kommen zum Teil stark schwankende Stückzahlen. Die getaktete Linienmontage stößt hier faktisch an ihre Grenzen.

Es braucht agile und flexible Montagesysteme, um an Hochlohnstandorten wie Deutschland weiterhin kostengünstig und wettbewerbsfähig produzieren zu können.

Dr. Guido Hüttemann, Leiter und Geschäftsführer des Center XL Assembly am RWTH Aachen Campus

Möglichst flexibel zu arbeiten, bedeutet aber auch, manuell zu arbeiten. Und da kommen wir zum nächsten großen Thema: dem Fachkräftemangel. Je komplexer und variantenreicher die Produktion, desto höher muss das Qualifikationsniveau der Arbeitskräfte sein. Diese Menschen fehlen und erhöhen den ohnehin schon bestehenden Fachkräfte-Engpass in der Industrie.

Sie sehen also: Die Herausforderungen für die Montage der Gegenwart sind komplex und vielschichtig. Hier gilt es, Lösungen zu finden.

Visionäre Lösungsansätze für die Automatisierung in der Montage

Dann spannen wir doch die Brücke zum Kern Ihrer anwendungsnahen Forschung am Center XL Assembly. Sie verfolgen mit Ihrem Team die Vision einer linienlosen, mobilen und autonomen Montage. In diesem Kontext ist ja vor allem Ihr Leuchtturmprojekt interessant – der „Line-less Mobile Assembly Demonstrator“. Was hat es damit auf sich?

Hüttemann: Wie es der Name sagt, demonstrieren wir mit diesem Projekt ein linienloses, mobiles Montagesystem [engl.: Line-less mobile Assembly System] anhand der LKW-Rahmenmontage. Es gibt also keine klassische Perlenkette. Und innerhalb des Systems werden sowohl die Ressourcen als auch das Produkt von autonomen Robotern durch unser Labor gefahren. Auf dieser mobilen Plattform ist wiederum ein Cobot von Universal Robots [Anm.d.Red.: ein UR10] montiert.

Bei der Forschung an einem linienlosen, mobilen und autonomen Montagesystem kommen unsere Cobots zum Einsatz.

Und welches Ziel verfolgen Sie mit dem Projekt des linienlosen, mobilen Montagesystems?

Hüttemann: Als Forschungsleiter bin ich in erster Linie Wissenschaftler. Ich hinterfrage also bereits vorhandenes Wissen kritisch, ziehe daraus einen Erkenntnisgewinn und zeige anschließend im besten Fall neue Wege auf. Genau dieses Ziel verfolgen wir bei der RWTH Aachen mit der prototypischen Implementierung dieses Montagesystems.

Es ist ein überspitzter Debattenbeitrag, um die Entscheider in der Industrie anzuregen, darüber nachzudenken: Ist das, was wir tun, noch zeitgemäß?

Dr. Guido Hüttemann,

Und die Antwort auf diese Frage ist nicht, dass bald Heerscharen von Robotern kreuz und quer durch die Industriewerke fahren. Das ist Quatsch! Denn es ist teuer, ineffizient und bringt aktuell niemanden weiter. Um das Problem der Varianz in Zukunft lösen zu können, braucht es einen Weg dazwischen. Also einen hybriden Ansatz aus konventioneller Linie und linienlosen, mobilen und autonomen Systemen.

Klingt spannend. Gibt es bereits etwas Vergleichbares in der Praxis?

Hüttemann: Nach meinem Wissensstand ist solch ein vollumfängliches System aktuell nicht im Einsatz.

Warum?

Hüttemann: Es gibt zwei zentrale Herausforderungen. Die erste ist die Produktionssteuerung. Die Linie von Herrn Ford hatte einen großen Vorteil. Es ist ziemlich klar, was da passiert – von A nach B zu C. Deterministisch und einfach.

Ein linienloses System ist das nur dann, wenn ich Teile seiner Vorteile aufgebe. Wie zum Beispiel, dass es spontan auf Änderungen, Störungen und Materialverfügbarkeit reagieren kann. Diese Vorteile nutzen zu können, bedeutet aber auch, dass ich in der Folge eine viel komplexere Fragestellung beantworten muss. Jetzt ist auch ein Sprung von A nach C zu E möglich. Diese Komplexität kann ich als Mensch nicht beherrschen.

Heißt: Ich brauche an der Stelle ein entsprechendes Steuerungssystem, das folgende Fragen beantwortet: Welche Schritte gibt es? In welcher Reihenfolge? Durch wen – also Maschine oder Mensch? Und wo? Das Problem ist mathematisch beschrieben und lösbar. Aber es gibt Stand heute niemanden auf dem Markt, der solch eine Software anbietet. Also muss ich sie als Unternehmen entweder selbst entwickeln oder jemanden dafür bezahlen. Das Problem ist nur: Das sind Software-Fragestellungen, die substanzielle Personenjahre an Entwicklerzeit in Anspruch nehmen. Und am Ende muss das Programm natürlich noch funktionsfähig sein.

Und was wäre die zweite Herausforderung eines linienlosen Systems?

Hüttemann: Den Robotern mehr Autonomie zu verpassen. Nehmen wir einen kollaborierenden Roboter von Universal Robots. Die Hardware ist unglaublich simpel. Ebenso die Art und Weise der Programmierung – da hat UR einiges richtig gemacht. Trotzdem muss ich manuellen Input reinstecken, wenn der Cobot eine neue Aufgabe erledigen soll. Wenn ich aber als Unternehmen auf Losgröße 1 produziere, kann ich nicht jedes Mal einen Menschen hinstellen, der das manuell einrichtet. Egal wie einfach das ist. Es kostet einfach zu viel Zeit. Die Frage ist also: Wie kommen wir hier einen Schritt weiter?

Automatisierung der Montage: Universal Robots forscht als Kooperationspartner am Center XL Assembly

Im Aachener Forschungslabor helfen unsere Cobots bei der Vision einer linienlosen, mobilen und autonomen Montage.

Seit August letzten Jahres ist Universal Robots Mitglied am Center XL Assembly und forscht dort gemeinsam mit Ihnen und anderen Kooperationspartnern an relevanten Fragestellungen für die Montage der Zukunft. Was macht die Zusammenarbeit mit UR so wertvoll?

Hüttemann: Wenn wir jetzt die drei Schlagwörter nehmen – also linienlos, mobil und autonom. Da nimmt Universal Robots natürlich vor allem für den autonomen Bereich eine wichtige Position ein. Bei mobil in Teilen auch. Denn über UR tauschen wir uns zum Beispiel mit MiR [Anm.d.Red.: Mobile Industrial Robots] aus, die die mobilen Plattformen bauen.

Universal Robots ist aber auch noch in einem anderen Bereich sehr gut aufgestellt, der für uns interessant ist. Denn UR stellt seinen Partnern mit Universal Robots+ eine umfangreiche Plattform zur Verfügung. Ähnlich wie in einem App Store erhält man dort Add-on-Produkte in Form von Hardware- und Software-Modulen, die auf die jeweils gewünschten Anwendungen perfekt zugeschnitten sind. Das Ergebnis ist eine schnellere Bereitstellung und leichtere Integration der Bausteine sowie eine  rasche Amortisierungszeit.

Diese innovative Herangehensweise von Universal Robots schafft eine sehr gute Basis für unseren noch eher jungen und explorativen Forschungsbereich.

Dr. Guido Hüttemann,

Was wäre der nächste Big Step? Und wie kann Universal Robots dabei helfen?

Hüttemann: Uns treibt zum Beispiel aktuell die Frage um: Kann ich mit 5G oder auch WiFi das, was auf dem Roboter vorne passiert, von der Steuerung entkoppeln und woanders hinschicken? Das geht natürlich mit einem Kabel. Aber nur, solange der Roboter nicht durch die Gegend fährt.

Ein mittel- bis langfristiges Ziel in der Zusammenarbeit mit Universal Robots wird also sein, in einem Ökosystem wie UR+ sukzessive und modular intelligente Software zu integrieren, die eben das ermöglicht.

Um den Bogen zu spannen: Wagen Sie zum Abschluss einen visionären Ausblick à la Ford. Wie sieht ein realistisches Zukunftsszenario in der Montage aus?

Hüttemann: Langfristig sehe ich automatisierte Montagesysteme, die dank vorhandener Algorithmen ihre Ressourcen maximal effizient einsetzen. In dieser Umgebung bekommen die Arbeitskräfte durch Assistenzsysteme die für Sie relevanten Informationen bereitgestellt, um ihnen die Arbeit bestmöglich zu erleichtern.

Langfristig sehe ich automatisierte Montagesysteme, die dank vorhandener Algorithmen ihre Ressourcen maximal effizient einsetzen.

Dr. Guido Hüttemann,

Die Menschen in diesem System übernehmen steuernde und komplexe Tätigkeiten und werden von kollaborierenden Robotern bestmöglich unterstützt. Solch eine Fabrik hätte relativ wenig Probleme damit, neue Produktvarianten einzuführen und die Stückzahlen dynamisch anzupassen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Hüttemann.

Hüttemann: Es war mir ein Vergnügen.

Benjamin Völzke

Benjamin Völzke arbeitet seit 2021 als Head of Field Application Engineering Western Europe bei Universal Robots. Der gelernte Automatisierungstechniker ist Spezialist für virtuelle Inbetriebnahme und verantwortet den technischen Pre-Sales Support im Partnernetzwerk der DACH-Region. Darüber hinaus leitet Benjamin Völzke das Technikteam mit Entwicklungsfokus auf innovativen Cobot-Applikationen – für größtmögliche Kundenzufriedenheit. Die virtuelle Welt beschreibt er auch im Privatleben als seine größte Leidenschaft.

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